Ayurveda – Wellness oder Medizin?

Erst allmählich wird die indische Heilkunde im Westen als Naturheilverfahren wahrgenommen

Beruhigend: Der Stirnölguss gilt im Westen als Inbegriff des Ayurveda

Auf dem langen Weg von Indien nach Europa hat sich der Ayurveda von der Volksmedizin zum exotischen Wochenend-Luxus für Erholungsuchende gewandelt. „In Deutschland ist Ayurveda fast komplett in den Wellness-Bereich abgedriftet“, kritisiert Professor Andreas Michalsen, Chefarzt der Fachabteilung Naturheilkunde des Immanuel-Krankenhauses in Berlin-Wannsee und Leiter der Hochschulambulanz für Naturheilkunde der Charité. In Indien dagegen befindet sich die traditionelle Volksmedizin fest in der Hand universitär ausgebildeter Ärzte.

Intensivere Forschung soll nun auch im Westen die Aufmerksamkeit stärker auf die medizinischen Effekte der jahrtausendealten indischen Heilkunde richten. „Wir wollen zeigen, dass Ayurveda mehr beinhaltet als entspannende Massagen und Stirnölgüsse. Die Möglichkeiten dieses Systems gehen weit über die Behandlung stressbedingter Symptome hinaus“, sagt Michalsens Mitarbeiter Dr. Christian Keßler, der seit 2002 auch als Ayurveda-Arzt tätig ist. Daher planen die Experten eine Studie, welche die Wirksamkeit einer komplexen ayurvedischen Behandlung bei Patienten mit Kniegelenkarthrose untersucht.

Typische Gewürze: Pfeffer und Kardamom

Denn in der ayurvedischen Therapie spielen neben den im Westen so populären manuellen Methoden auch ausleitende Verfahren, Phytotherapie, Ernährung, Lebensstilveränderungen, Meditation und Bewegung (Yoga) eine große Rolle. Sie zielen auf eine tief greifende Reinigung und Stärkung des Organismus durch eine Harmonisierung der drei „Bioenergien“ vata, pitta und kapha. Ein Ungleichgewicht dieser Kräfte gilt als Ursache für Krankheit. Es soll hauptsächlich durch eine dem individuellen Typ nicht angemessene Ernährung entstehen. Diese stört in der Vorstellung der indischen Volksmedizin das Verdauungsfeuer agni, sodass die aufgenommene Nahrung nicht optimal verwertet und umgesetzt werden kann.

Unverdaute Nahrungsbestandteile (ama) und Stoffwechselgifte (mala) können sich nach dieser Theorie in verschiedenen Geweben ablagern und die Organfunktionen beeinträchtigen. Stoffwechselanregende Maßnahmen sowie Darmeinläufe, Kräuterabkochungen und das Trinken geklärter Butter sollen das Gewebe von innen reinigen sowie ama und mala ausleiten. Ölmassagen und Schwitzbäder helfen, die Stoffe zu mobilisieren und aus dem Körper zu schleusen.

Im Ayurveda ist der Mensch, was er isst. „Nur wenn er sich richtig ernährt, können die Gewebe und Organe richtig aufgebaut werden“, sagt Dr. Annette Müller-Leisgang, Medizinerin und Ayurveda-Ärztin aus München. Gewürze wie Kreuzkümmel, Zimt, Nelken, Koriander, Muskat, Kurkuma und Ingwer aromatisieren nicht nur Gerichte, sondern werden in Indien in spezieller Dosierung und Zubereitung auch als Arzneimittel verabreicht. „Frischer Ingwer heizt agni an und aktiviert dadurch den Stoffwechsel“, erklärt die Ärztin.

Meist werden Mischungen eingesetzt

Über die verdauungsfördernde Wirkung hinaus – sie ist auch in der europäischen Naturheilkunde bekannt und wissenschaftlich erwiesen – schreibt die indische Volksmedizin dem Ingwer eine entzündungshemmende Wirkung zu. Vor allem Patienten mit chronischen Stoffwechsel- und Gelenkerkrankungen sollen von den lindernden Effekten indischer Heilpflanzen profitieren, denn nicht nur Ingwer hat sich als Entzündungshemmer bewährt. Diese Wirkung ist mittlerweile auch für Gelbwurz (Kurkuma) und Weihrauch gut durch Studien belegt.

Indischer Weihrauch (Boswellia serrata) wird im Ayurveda traditionell zur Wundreinigung und Desinfektion angewendet. Aktive Wirksubstanzen sind Harzsäuren und ätherische Öle. Eine Studie der Universität Mannheim zeigt zudem positive Effekte des Boswellia-serrata-Extrakts H15 bei der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn. Forscher untersuchen, ob Weihrauch auch bei Schuppenflechte und Neurodermitis hilft. Bei Stoffwechselerkrankungen könnten sich ayurvedische Heilpflanzen ebenfalls bewähren: Forschungsarbeiten wiesen im Tierversuch einen blutzuckersenkenden Effekt der Bittermelone (Karela) bei Diabetes nach. Manche ayurvedische Heilpflanzen stellen die Grundlage für synthetische Stoffe dar. So wurden die Hustenmittel Bromhexin und Ambroxol aus dem Indischen Lungenkraut entwickelt.

Die typisch westliche Herangehensweise, eine Einzelsubstanz isoliert auf ihre Wirksamkeit hin zu untersuchen, wird dem ganzheitlich orientierten Ayurveda nach Meinung von Experten nicht gerecht. „Eine ayurvedische Therapie würde nie aus einer einzigen Droge bestehen“, sagt Keßler. „Meist werden Mischungen eingesetzt, um positive Wirkungen zu potenzieren und mögliche Nebenwirkungen zu reduzieren“, bestätigt Michalsen. Die Zusammensetzung dieser Kombi-Präparate ist wie die Behandlung auf die individuelle Verfassung des Patienten abgestimmt. Eine bestimmte Diagnose führt also nicht automatisch zu einem bestimmten Therapieschema.

In Deutschland bieten nur wenige naturheilkundliche Kliniken medizinischen Ayurveda an. Die meisten gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten dafür nicht, private nur im Einzelfall.

Ute Essig / Apotheken Umschau; 14.06.2010, aktualisiert am 28.02.2012
Bildnachweis: alimdi.net/Jochen Tack, Visum Foto GmbH/Holde Schneider

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